Der EuGH ist das Rechtssprechungsorgan der EU-Gesetzgebung und für die Auslegung des Unionsrechts zuständig. In drei Verfahren befasst sich der EuGH aktuell mit berufsrechtlichen Fragen, die unmittelbaren Einfluss auf das Berufsgeheimnis und die Kapitalbindung für Steuerberater und Kanzleien haben.
Berufsgeheimnis I
Am 29.07.2024 hat der EuGH im Urteil des Vorabentscheidungsverfahrens in der Rechtssache C-623/22 u. a. zur Frage Stellung genommen, ob für Berufe, für die nach nationalem Recht eine Verschwiegenheitspflicht besteht, die aber keine Rechtsanwälte sind, im selben Umfang das Berufsgeheimnis gilt wie für Rechtsanwälte. Die Kläger, französische und belgische Organisationen der Berufsträger, hatten zuvor geltend gemacht, dass die Verschwiegenheitspflicht der Rechtsanwälte bei der Anzeigepflicht grenzüberschreitender Steuergestaltungen (in Deutschland §§ 138d ff. AO) im gleichen Maße etwa für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer oder Notare gelten müsse, soweit diese der nationalen Verschwiegenheitspflicht unterliegen.
Mit dem Hinweis auf die besondere Stellung von Rechtsanwälten im Gerichtsverfahren lehnt der EuGH in seinem Urteil allerdings eine Ausdehnung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses bei der Anzeigepflicht grenzüberschreitender Steuergestaltungen ab.
DStV-Standpunkt: Der EuGH verpasst die Chance, das Berufsgeheimnis einfach und rechtssicher für alle Berufsgeheimnisträger zu regeln. Stattdessen ist er bemüht, die Anzeigepflichten grenzüberschreitender Steuergestaltungen zu stützen. Dabei zementiert er eine Zwei-Klassen-Gesellschaft beim Berufsgeheimnis. Die Eindämmung aggressiver Steuerplanung ist sicherlich ehrenwert. Allerdings hat der DStV in seiner Stellungnahme deutlich gemacht, dass die Anzeigepflicht grenzüberschreitender Steuergestaltungen nicht zum Kampf gegen Steuervermeidung taugt. Sie ist vielmehr wirkungslos und bürokratisch.
Berufsgeheimnis II
Das Berufsgeheimnis ist zugleich Gegenstand der Rechtssache C-432/23. Dabei klagt die luxemburgische Kammer der Rechtsanwälte gegen ein Auskunftsersuchen der Steuerverwaltung.
Im noch laufenden Vorabentscheidungsersuchen stellt die Generalanwältin in ihrem Schlussantrag u.a. fest, dass der besondere Schutz des Anwaltsgeheimnisses im Zusammenhang mit der rechtsberatenden Tätigkeit im Rahmen eines konkreten Mandats besteht. Diese Grundsätze würden allerdings „nicht nur für Rechtsanwälte, sondern auch für Steuerberater und andere Berufsgruppen gelten, soweit diese nach dem jeweiligen nationalen Recht als unabhängige Organe der Rechtspflege den Rechtsanwälten gleichgestellt und somit zur Rechtsberatung und gerichtlichen Vertretung von Mandanten befugt sind.“
DStV-Standpunkt: Wir begrüßen die Ansicht der Generalanwältin, die offensichtlich Wesen und Stellung der Steuerberater in Deutschland verstanden hat. Es bleibt zu hoffen, dass diese Position sich auch im noch ausstehenden Urteil des EuGH wiederfindet.
Kapitalbindung
In dem Rechtsstreit C-295/22 geht es um die Frage, ob eine österreichische Gesellschaft, die nicht zur Rechtsberatung zugelassen ist, einen Teil (51 %) des Gesellschaftskapitals einer in Deutschland tätigen Rechtsanwaltsgesellschaft erwerben darf. Die Rechtsanwaltskammer München hatte diesen Erwerb mit der Begründung untersagt, er sei nicht mit den Vorschriften des anwaltlichen Berufsrechts in Deutschland vereinbar. Bei Rechtsanwaltsgesellschaften dürften vielmehr nur Angehörige bestimmter Berufe beteiligt sein. Es geht also um die Kriterien, nach denen die Beteiligung an einer Berufsausübungsgesellschaft festgelegt werden.
In seinem Schlussantrag sprach der Generalanwalt den Regelungen der BRAO die erforderliche Kohärenz ab. Es wäre nicht mit den Bestimmungen des freien Kapitalverkehrs vereinbar, dass bestimmte Berufe sich an einer Anwaltskanzlei beteiligen dürften, andere aber nicht, obwohl diese objektiv ebenfalls die erforderlichen Kriterien erfüllen könnten.
DStV-Standpunkt: Der freie Kapitalverkehr und der Schutz der Unabhängigkeit von Steuerberatern müssen gut gegeneinander abgewogen werden. Der Generalanwalt macht deutlich, dass eine reine Abgrenzung nach Berufsgruppen bei den Berufsausübungsgesellschaften nicht darüber entscheiden kann, wer sich an einer Kanzlei beteiligen darf. Folgt der EuGH der Ansicht des Generalanwalts, dann müssen die Kriterien für die Beteiligung an den Berufsausübungsgesellschaften unter Umständen neu definiert werden.